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14. Mai 2017

«Wir müssen uns bessern in der Art, wie wir miteinander umgehen.»

Buchcover «Wir müssen uns bessern in der Art, wie wir miteinander umgehen.»

Keine Serie hat in diesem Jahr die Gemüter dermassen erhitzt, wie «13 reasons why» von Netflix. Grund für die vielen Diskussionen ist eine rund vierminütige Szene im Staffelfinale: Der Suizid Hannah Bakers.

Hannah Baker ist tot. Sie entschied sich für Selbstmord. Mit dieser Tatsache wird man gleich in der ersten Folge des neuen Netflix-Megaerfolgs konfrontiert. Die quälende Frage nach dem warum wird dem Zuschauer auf 13 Tonbändern präsentiert, welche Hannah kurz vor ihrem Tod aufgezeichnet hatte.

Die Popularität der Serie wächst rasant und es dauerte nicht lange, bis die ersten Diskussionen über die Darstellung von Hannahs Suizid auftauchten. Auch bei mir löste der Suizid starke Emotionen aus. Meine ersten Gedanken: «Darf man das? Was ist, wenn diese Serie von Jugendlichen mit Selbstmordgedanken geschaut wird. Führt diese Serie nicht zu einem ‹Werther-Effekt›?» Schliesslich warnen viele Experten, dass eine zu detaillierte Darstellung eines Selbstmordes zu Nachahmungstaten führen könnte.

«Selbstmord ist auch heute noch ein Tabuthema»

Suizid bei Jugendlichen beschäftigt mich persönlich schon seit einigen Jahren, was nicht zuletzt auch dazu führte, dass es zum Hauptthema in meinem aktuellen Thriller «Du bist mein» wurde. Ich finde es enorm wichtig, dass wir alle mehr über Suizid im Allgemeinen und bei Jugendlichen im Speziellen reden. Denn nur durch die öffentliche Debatte kann es gelingen, dass Betroffene auch Gehör und Hilfe finden. Eine solche Debatte löst die Serie nun zweifelsfrei aus. Und dennoch schwebt über allem, die Befürchtung einen Selbstmord zu provozieren.

Als Autor, der ebenfalls Suizid in einem Thriller thematisiert, begleitet mich der «Werther-Effekt» ständig, oder besser gesagt die Angst davor. Aber in meinen Augen kann man sich hinter diesem Begriff zu gut verstecken, um den Tatsachen nicht in die Augen zu blicken, um über das schreckliche Thema Suizid bei Jugendlichen nicht reden zu müssen. «Über Suizid darf man nicht sprechen, sonst könnte es Nachahmer geben», ist eine der häufigsten Aussagen, selbst wenn man mit Experten spricht. Und trotzdem frage ich mich, ist es auch hier wieder nur diese vorauseilende Panik, die viele dazu veranlasst Warnungen über die Serie auszusprechen?

Ich habe die Serie an einem Wochenende durchgeschaut. Das Ergebnis: Nach der 13-stündigen emotionalen Tortur musste ich zuerst raus, an die frische Luft, unter Leute. Denn die Geschichte ging mir sehr nahe. Und obwohl ich schon von Beginn an wusste, dass Hannah sich das Leben nehmen würde, zog mich die traumatische Handlung psychisch runter. Und genau dann, wenn man sich schon an einem emotionalen Tiefpunkt befindet, folgen die zwei schrecklichsten Szenen kurz aufeinander: die Vergewaltigung und der Selbstmord. Eine unerträglicher als die andere. Genötigt hinzusehen, wie Hannah zuerst seelisch stirbt und schliesslich ihr Leben selbst beendet. Immer in Nahaufnahme, immer aufs Gesicht.

«Das ist zu viel, sowas darf einem Teenager nicht gezeigt werden.»

Es ist eine Gratwanderung, dessen bin ich mir bewusst. Sehr sogar. Während des Schreibens von «Du bist mein» war es für mich eine der grössten Herausforderungen, meine Geschichte so zu erzählen, dass sie zwar die Leser zum Nachdenken anregt und berührt, aber keine unnötigen Details beschrieben werden. Es war mir wichtig, dass der Leser am Schluss nachdenklich, aber mit einem Funken Hoffnung, das Buch beiseitelegt. Mein Ziel war es niemals, dass meine Leser sich danach (zu) schlecht fühlten. Doch genau dieses Gefühl löste «13 reasons why» bei mir aus. Aber reicht das wirklich, um einen Menschen in den eigenen Selbstmord zu treiben?

Um eine Antwort zu finden, brauchen wir zuerst ein Verständnis für die Vorgänge vor einem Selbstmordversuch. Man kann grob zwei Phasen unterscheiden. Die erste Phase ist geprägt von destruktiven Gedanken, aber die Entscheidung zur Umsetzung des Selbstmordes ist noch nicht gefallen. Erst mit dieser beginnt die zweite Phase. Und so unerträglich es auch ist, sobald die Entscheidung einmal steht, ist es extrem schwierig, eine Person ohne professionelle Hilfe vom Vorhaben abzubringen.

Daher würde ich die Frage wie folgt beantworten: Auf Menschen, welche die Schwelle bereits überschritten haben, wird die Serie kaum einen Einfluss haben. Anders bei Personen in der ersten Phase. Auf sie kann die Serie durchaus ein Wirkung haben, und ich behaupte sogar eine positive.

Unterschiede zur Buchvorlage

Interessant an diesem Punkt ist auch eine Entscheidung der Serienmacher. In der Buchvorlage wird aufgrund der Perspektivenwahl nie eine Szene mit Hannah alleine gezeigt. Alles, was der Leser erfährt, wird durch die Augen von Clay Jensen, einem ehemaligen Freund von Hannah, erzählt. So kriegen wir den Suizid nicht direkt mit.Einzig auf den Tonbändern erfährt der Leser von Hannah, dass sie sich für Tabletten entschieden hat. Brisant finde ich einen Nebensatz: Es sei die schmerzloseste Variante. Wieso also haben sich die Drehbuchautoren für die Rasierklinge entschieden?

Einen plausiblen Grund lieferte das Gespräch mit einer guten Freundin, die selbst schon einen Selbstmordversuch überlebt hat und mich bereits bei den Recherchen zu «Du bist mein» unterstützte: Dem Zuschauer wird der Selbstmord so brutal vor Augen geführt, wie er eben ist. Ohne Verzerrung und Schönmalerei. Wir werden mit der aufsteigenden Panik und den Schmerzen konfrontiert, welche Hannah in einer gefühlten Ewigkeit durchlebt. Die Brutalität nimmt dem Suizid jegliche romantische Eigenschaft. Und diese kleine Tatsache kann die entscheidende abschreckende Wirkung auf Betroffene haben. Denn wenn jemand mit der Tatsache konfrontiert wird, dass der eigene Abschied nicht leicht und schmerzlos vonstattengeht, sondern mit panischer Angst vor dem Unausweichlichen, dann kann dies Leben retten.

Ein kleiner Gedanke für alle, die jetzt aufschreien und die Serie verbieten wollen

Kann es nicht sein, dass Sie primär darum in Panik geraten, weil Ihnen auf eine brutale Art und Weise der Spiegel vorgehalten wird. Und Sie erkennen müssen, dass Sie Ihre Kinder nicht immer verstehen und die Kontrolle verlieren könnten? Dass Sie eben nicht in die Köpfe Ihrer Kinder schauen können und dass auch Ihnen genau das gleiche geschehen könnte, wie den Eltern von Hannah Baker?

Vielleicht, wenn es uns allen gelingen würde, das Thema Suizid nicht mehr zu tabuisieren, dann würde es möglich werden, dass Betroffene und Gefährdete offener mit ihren Problemen umgehen könnten und dass Warnsignale von uns allen früher erkannt würden. Denn, wie Clay Jensen am Ende der ersten Staffel sagte: «Wir müssen uns bessern in der Art, wie wir miteinander umgehen. Und achtgeben aufeinander.»


An dieser Stelle möchte ich noch auf die herausragende Arbeit des Sorgentelefons 147 hinweisen, welches speziell für Jugendliche in seelischer Not da ist, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Komplett anonym und kostenlos. www.147.ch.

Erreichbar per Telefon, Chat, SMS, oder Email.

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